Kennt ihr den Film Tango Lesson? Zwei Dinge haben mich besonders beeindruckt, als ich den Film vor vielen Jahren das erste Mal sah: der Tango im Regen in Turnschuhen und der leere Tisch. Immer wenn ich etwas Neues beginnen möchte, denke ich an diesen leeren Tisch in einem fast leeren Raum, den die Drehbuchautorin offenbar als gute Ausgangsposition empfand, um mörderische Szenen zu ersinnen, die in einem Pariser Park spielen. Und obwohl in ihrer Wohnung Wasser von der Decke tropfte, beneidete ich sie, denn sie hatte offenbar wenig Zeug.
Dass ich seit meiner Kindheit vom Aufräumen und Ausmisten fasziniert war, liegt wohl daran, dass ich sehr viel häufiger umzog als der Durchschnitt. Schon immer fand ich es reizvoll, den kleinsten Raum mit günstigen Mitteln zweckmäßig zu gestalten und meine ganz eigenen Regeln ästhetischer Effizienz zu entwickeln. Ich habe also viel Erfahrung beim Sortieren und Entsorgen, allerdings haben sich die Gründe etwas verschoben: früher habe ich Dinge aussortiert, um wieder Platz für Neuanschaffungen zu haben oder weil ich mich aufgrund derzeitiger Lebensumstände räumlich verkleinern musste.
Heute finde ich es tatsächlich erstrebenswert, mit wenig Kram zu wohnen (Ebooks sei Dank ist das nun auch für einen lesesüchtigen Menschen wie mich keine Unmöglichkeit mehr), und ich würde das auch bevorzugen, wenn ich im Lotto gewinne. Das heißt: ich sortiere nicht mehr aus, weil ich muss oder neue Sachen will, sondern damit es tatsächlich weniger wird und auch bleibt.
Ich liebe Ordnung, Überblick und Möbel, die ich beim Umzug notfalls selber tragen könnte. Seit fünfzehn Jahren hängen und liegen meine Klamotten offen im Zimmer, weil ich mir keinen Kleiderschrank mehr antun wollte. Volle Wohnungen und volle Keller, Türen, die nicht ganz aufgehen, schwere Möbel, vollgestopfte Schubladen und Sätze wie: „das kann man vielleicht nochmal gebrauchen“ finde ich anstrengend.
Ich habe so viele Dinge, die ich tun, lesen und lernen möchte, dass es mich ermüdet, wenn ich Zeit dafür benötige, Sachen zu suchen, zu beschützen oder sie auf dem Tisch zum xten Mal hin- und her zu schieben. Die meisten Ordnungssysteme, die ich mir im Laufe meines Lebens angeschafft habe, sind übrigens inzwischen auch schon wieder entsorgt, weil sie genau das fördern, was ich nicht will: Dinge aufzuheben, die ich nicht benutze.
Auch in anderen Bereichen war mein Ziel oft die Vereinfachung: ob beim Wohnen, beim Essen, bei täglichen Abläufen, beim Putzen, beim Sport, in Beziehungen oder bei der Behandlung von Beschwerden vertraue ich meistens auf Einfachheit: weniger ist mehr – und je weniger, desto größer empfinde ich die Chance, dass alles von selbst an seinen Platz fällt. Dennoch bin ich natürlich auch immer wieder damit beschäftigt, die Verstrickungen des Lebens zu entwirren, mich von Menschen, Tieren und Dingen zu verabschieden und mir einen neuen Überblick zu erarbeiten: diese Lektionen sind dann quasi die i-Tüpfelchen, die Gewürze, die Abenteuer und auch kleinen Dramen, die somit aus meinem Leben eben wirklich erst mein Leben machen.
Nun gibt es Menschen, die mit einem Rucksack und einem Schlafsack wilde Wälder erkunden und ihr materielles Eigentum auf diesen Schlafsack reduziert haben. Das finde ich faszinierend, und ich bin auch ein wenig neidisch auf jeden, der in subtropischen Hitzegebieten draußen schlafen kann. Ich würde wohl kein Auge zutun, denn obwohl ich zuhause jede Spinne, die ich als zuviel in der Wohnung empfinde, hinaus trage und die anderen in ihrer Zimmerecke lasse, ist es mir unangenehm, wenn andere Tiere als meine Katze auf mir hocken, während ich schlafe. Ich will damit sagen: Minimalismus hin oder her, ich reise gerne, aber ich mag meine Umgebung bequem und berechenbar und bin auch dankbar für fließendes Wasser im Nebenraum. Wenig Zeug ist klasse und das Bett muss mir auch nicht gehören, aber wenn es in einem sauberen Hotel steht, hab ich auch nichts dagegen.
Der Begriff Minimalismus kann also sehr unterschiedlich empfunden werden, doch ist es spannend, wie sehr er gerade um sich greift – und auch sehr inspirierend. Grundsätzlich lässt sich das Ordnungschaffen, die Trennung von allem, was man nicht braucht und die im Laufe des Lebens zunehmende Aufmerksamkeit darauf, was einen im Alltag umgeben soll, auf alle Lebensbereiche ausdehnen. Man vereinfacht, wird effizienter und schafft Raum für Neues, den man am besten gar nicht mehr aufräumen muss, weil man keine Unordnung mehr kultiviert. Der sogenannte Minimalismus schafft also Platz für eine neue Fülle, die sich nicht durch ein Viel an Material beweisen muss. Und das kann Spaß machen. Vor allem, wenn man merkt, wie viele Situationen sich verbessern lassen, wenn man sie erstmal entmüllt und wieder auf das Wesentliche reduziert. Ob beim Bauen, bei gesellschaftlichen, sozialen oder politischen Fragestellungen, die beste Lösung ist oft so minimalistisch und einfach, dass einem die Luft wegbleibt – aber bleiben wir für heute im persönlichen Bereich:
Beim Essen bedeutet das, natürliche und möglichst wenig verarbeitete Dinge zu essen. Ernähre ich meinen Körper mit Lebensmitteln, die ihn stärken und nicht belasten, muss ich ihn später auch nicht aufräumen. Faste ich täglich ein bisschen, muss ich nicht später wochenlang fasten. Rohkost ist für mich die minimalistische Ernährungsform schlechthin, eben weil man das Gemüse nicht kochen muss (heute scheint es jedoch manchmal so, als bräuchte man dafür mehr Zeit und Küchengeräte als zum Kochen). Esse ich nährstoffreiche und möglichst unveränderte Dinge, die aus möglichst wenigen pflanzlichen Zutaten bestehen, gebe ich dem Körper die Möglichkeit, sofort alles an seinen Platz zu sortieren und Nährstoffe und Abfallprodukte zu trennen, bevor die nächste Ladung kommt. Aus diesen einfachen Weisheiten wurden inzwischen Begriffe wie „intermittierendes Fasten“ oder auch „Monodiät“, was offenbar mehr Menschen dazu bewegt, sich einfacher zu ernähren, als wenn man ihnen sagt, was eigentlich jeder weiß: „iss nicht alles durcheinander und abends am besten gar nicht mehr“.
Auch die Ordnung im Zuhause, ob das nun ein Zelt ist oder eine Villa, ob im Koffer oder im Schrank, lässt sich auf alte Ordnungsregeln zurückführen, die ich schon von meinen Großeltern kenne: Jedes Teil hat seinen Platz und wird nach Gebrauch wieder dorthin gepackt und was man dreckig macht, macht man sofort wieder sauber. Das sind übrigens für jede Form des Zusammenlebens die friedlichsten Regeln.
Was meine Großeltern nicht so gut beherrschten, war das Loslassen von Besitz. Und auch das galt für alle Lebensbereiche: Essen, Schränke, Schrankinhalte, Beziehungen. Sich selbst über Besitztümer zu definieren, hatte sicher auch mit den Kriegszeiten zu tun, während denen ihnen bis auf das eigene Leben wirklich alles genommen wurde. Da war es dann ein Pflaster auf die alten Wunden, das Ende der furchtbaren Zeit zu markieren und das Leben wieder neu zu erschaffen – und dieses neue Leben wollte man auch sehen und vorzeigen können. Die Angst davor, Sicherheit zu verlieren, war groß und die Freude am Leben zeigte sich in wachsenden Besitztümern und ungesunden Fettpolstern, mit Leichtigkeit verband man Hunger und Untergewicht und mit Loslassen Verlust.
Inzwischen haben nachfolgende Generationen (wieder) erkannt, dass es sich einfacher leben lässt, wenn einem gar nicht so viel genommen werden kann, weil man alles, was man zum Glück braucht, in sich trägt. Das wiederum konnten meine Eltern besser als meine Großeltern.
Naja, leicht gesagt, ich erinnere an mein fließendes Wasser – und Wlan sowie sauberes Essen sind natürlich auch nicht schlecht für mein tägliches Glück. Dennoch geht das Streben heute eher in Richtung weniger – und dank der Digitalisierung nicht nur für den Rucksackabenteurer im Dschungel. Sein Leben zu Lebzeiten selber zu entrümpeln schafft auch im Kopf Ordnung und neue Räume und es geht dabei eben nicht nur ums schönere Wohnen.
Auch die Bewegung haben wir verkompliziert. Dass man Bewegung manchmal Sport nennt, das mag noch eine sinnvolle Differenzierung sein – doch viele denken, dass auch für Sport Hilfsmittel unerlässlich sind. Ich gehe gern ins Fitnesscenter und ich hab auch gerne gut sitzende Turnschuhe an – aber mein Bewegungsdrang hängt nicht davon ab. Ich liebe es ebenso, zum Bewegen nur meinen eigenen Körper zu brauchen, ob beim Tanzen, Laufen oder bei Kniebeugen, die übrigens auch schon mein Opa täglich machte und die wieder populärer geworden sind, seit man sie Squats nennt. Und wenn mir jemand sagt, er könne erst loslaufen, wenn er die richtigen Schuhe dafür gekauft hat, dann frage ich mich, ob der Drang zu laufen wirklich so groß ist. Gute Schuhe wären für mich dann eher Folge statt Bedingung. Dasselbe gilt übrigens auch für Entspannung und Meditation: Loszulassen ist ohne Hilfsmittel jederzeit und an jedem Ort möglich.
Ich fühle mich wohler, je weniger ich brauche – doch genieße ich auch gern komfortable Dinge, wenn sie mein Leben erleichtern und verschönern.
Wer zwischen seinen Dingen oder auch beim Essen die Übersicht verliert, kann ja zum Frühjahr einfach mal ausmisten und zukünftige Lasten gezielt auswählen anstatt sie versehentlich anzuhäufen. Dann bleibt die Basis des alltäglichen Lebens sortiert genug, um Überraschungen und Herausforderungen gelassener meistern und Spontanität sowie auch vielleicht mal ungesunde Genüsse wirklich feiern zu können. Kreisende Gedanken und Sorgen klären sich durch Vereinfachung des äußeren Umfeldes manchmal ganz ungefragt und wir begegnen, befreit vom Geröll, uns selbst in neuer Gestalt.
Inspirationen für den materiellen Frühjahrsputz gibt es zum Beispiel von Marie Kondo. Obwohl sie in ihrem Leben andere Prioritäten hat als ich, war das Lesen ihrer Ordnungstipps für mich wie ein Gespräch unter gleichgesinnten Aufräumseelen, bei dem die ein oder andere Anregung mir nun gerade noch zum Glück gefehlt hatte.
Damit mein Tisch dann wirklich immer wieder leer ist für einen neuen Tanz.
Gerne helfe ich beim Frühjahrsputz, wobei ich ja dann am liebsten mit der Speisekammer beginne ;)