vegan, veganer, am vegansten?

Oder auch: „ein bisschen vegan gibt es nicht, ein bisschen schwanger gibt’s ja auch nicht“, wie manch einer argumentiert, wenn jemand seiner Meinung nach nicht „richtig“ vegan ist. Sicher, entweder ist die Frau schwanger oder nicht, egal ob am ersten Tag oder im neunten Monat. Und obwohl eine Schwangerschaft im Gegensatz zum Vegansein keine reine Geisteshaltung ist, ist auch sie nicht durchgehend dasselbe, sie unterliegt einer natürlichen Entwicklung – auch des Geistes.

Beim Veganismus kann man es ähnlich sehen: es ist eine Entwicklung. Und wenn man schon argumentiert: „ein bisschen vegan gibt es nicht“, dann könnte es eigentlich auch bedeuten, dass man (wie bei der Schwangerschaft) auch zu Beginn dieser Entwicklung bereits vegan ist. Bliebe dann also „nur“ noch zu klären, ab wann es denn nun beginnt, das Vegansein.

Nun sind manche bereits nach einem One-Night-Stand schwanger, und manche werden quasi über Nacht vegan. Es hat plopp gemacht, vielleicht hat man den Film Earthlings gesehen – oder man hat irgendetwas im Blick seines Hundes entdeckt und Vergleiche angestellt… Noch in der selben Nacht werden die Lederschuhe entsorgt, der Käse und das Auto verschenkt und ab dem nächsten Tag wird nur noch Obst und Gemüse gegessen, gekauft im rein veganen Laden natürlich, ohne Plastikverpackung und mit dem Fahrrad transportiert. Ab sofort wird alles und jede(r) unter die Lupe genommen, ob es/er/sie vegan ist – und gegebenenfalls aus dem eigenen Alltag verbannt. Das soll es geben.

Doch weitaus häufiger gibt es eine Vorentwicklung, das Sich-Verlieben (was übrigens oft auch einer Schwangerschaft vorausgeht, um diesen Vergleich nochmal zu bemühen). Und da gibt es vielfältige Möglichkeiten, wie wir sie aus allen Anfängen von Liebesbeziehungen kennen. Es gibt zwar diese Storys von der Liebe auf den ersten Blick, häufiger jedoch sind die anderen Geschichten: man lernt sich kennen, man beginnt zu flirten (in diesem Fall mit der veganen Idee), man überlegt vielleicht: was wäre wenn… manchmal ergibt es sich fließend und es gibt eigentlich keinen präzisen Jahrestag – genauso häufig scheint jedoch auch der bewusste Entschluss: ich mache es, ich werde vegan. Ab sofort. Oder ab Silvester. Oder ab Montag. Oder wenn die Vorräte aufgebraucht sind. Jeder Mensch hat seine eigenen Vorgehensweisen und weiß, wenn überhaupt, nur selber, ab wann aus der Verliebtheit etwas Festes wurde mit der Aussicht auf den Bund für’s Leben.

Andere mögen das anders sehen – oder wollen es (und hier kommt jetzt der eigentlich beabsichtigte Vergleich mit der Schwangerschaft ins Spiel) an objektiven, offiziellen Parametern festmachen, vergessen dabei jedoch, dass das Vegansein grundsätzlich von einer Entscheidung zum Vegansein abhängt, und Entscheidungsprozesse lassen sich nunmal nicht messen wie Schwangerschaftshormone. Zumal oft die selben Menschen einem dann auch gleich die „erlaubten“ Ausnahmen mitteilen („also, ein Käseausrutscher in zwei Jahren, und fast aus Versehen, naja ok, dann bist du wohl trotzdem noch vegan, wenn du versprichst, dass du dir sofort 3x den Film Earthlings hintereinander anguckst, bei mir hilft das immer.“) Wer hatte diese Ausnahmen jetzt nochmal festgelegt? Und gibt’s die dann eigentlich auch bei der Schwangerschaft?  Nee, lassen wir das lieber, zumal: für die anderen machen wir das ganze ja sowieso nicht!

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Wir wachsen nun also ab Tag Eins in eine neue Lebenssituation hinein. Manche wollen gleich alles richtig machen, andere sind da entspannter und denken sich: das wird schon. Und jeder merkt wahrscheinlich im Laufe der Zeit: es hängt noch so einiges mehr dran, als bloß seine Ernährung umzustellen. Für welche Bequemlichkeiten in unserem Alltag andere Lebewesen leiden, wird einem Stück für Stück bewusster. Ein spannender und lehrreicher Prozess kann beginnen, manchmal ein schmerzlicher, bestenfalls ein glücklich machender.

Und nun (witzig, auch wieder wie bei der Schwangerschaft) beginnt der Prozess des Sichtbarwerdens: der Körper verändert sich, ebenso die Körperchemie, bei manchen auch der Freundeskreis (bei anderen aber nicht). Und wenn wir in drei Jahren zurückschauen, werden wir vielleicht erkennen, was eigentlich heute noch alles in unserem Leben nicht vegan war und die heutige Zeit, in der wir nun meinen alles bedacht zu haben, in einem anderen Licht sehen. Und wir werden froh sein, dass wir uns dennoch ab Tag Eins vegan genannt haben – denn genau das hat uns motiviert, es immer mehr zu werden.

Und wenn es sich auch laut Duden beim Veganismus um den ethisch motivierten (!) völligen (!) Verzicht auf tierische Produkte bei der Ernährung u. a. handelt, so wird fast keiner diesen Verzicht zu 100% umsetzen können, solange die Gesellschaft noch auf der Basis von Tierleid funktioniert – und wir ein Teil dieser Gesellschaft bleiben möchten. Schon allein, um sie verändern zu können.

Und ich meine jetzt nicht die Strukturen, die wir momentan nicht von hier auf jetzt beeinflussen können, die sich nunmal ergeben haben aus der langen Zeit von Ackerbau und Viehzucht. Ich meine nicht den Teil, den man sich von Mischköstlern anhören muss, die meinen, einem beweisen zu müssen, dass man ja auch als Veganer doch Tierleid „braucht“ für’s tägliche Leben. Natürlich ist das so, das weiß jeder Veganer – doch natürlich gibt es auch für alles Alternativen und viele Menschen, die genau daran und auch schon damit arbeiten.

Nein, ich meine die Bereiche, die in unseren direkten Entscheidungsbereich fallen. Und hier geht eben jeder seinen eigenen Weg mit seinen eigenen Prioritäten. Der eine verschenkt Wollpullover und der nächste verkauft vielleicht sein Auto, weil es zum einen nicht vegan hergestellt wurde und zum anderen mindestens Insekten tötet. Jemand anderes braucht aber sein Auto, um weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können (oder Bus oder Bahn oder Flugzeug, letztere töten natürlich regelmäßig weitaus größere Tiere als ein Auto). Manche fahren auch gerne Auto und das Schicksal der Insekten berührt sie (noch) nicht so wie das der Kühe und Schweine. Vielleicht kauft man auch mal einen Pullover, der noch etwas Wolle enthält. Oder benutzt Schnupfenspray, obwohl es nicht lebensnotwendig ist. Manche stören sich nicht an Spinnen oder befreunden sich nun sogar mit ihnen, andere wiederum sind immer noch irgendwie froh, dass im Hotelzimmer in Spanien eher wenige bis keine Kakerlaken herumlaufen, was natürlicherweise (!) in heißen Gebieten nicht der Fall wäre, manche hatten auch noch nie darüber nachgedacht.. Hat man also erstmal die Ernährungsumstellung geschafft, öffnet sich der Blick nach und nach und man geht aufmerksamer durch die Welt, fragt sich öfter als früher: brauche ich das wirklich oder kann ich eigentlich auch gut darauf verzichten – oder gibt es inzwischen dank der zunehmenden veganen Möglichkeiten sogar schon Alternativen?

Will man diesen natürlichen Prozess der eigenen Erfahrung verkürzen, kann man sich auch informieren. Schwangere können Schwangerschaftsbücher lesen und sich von anderen Menschen ihre Erfahrungen schildern lassen, persönlich oder auch im Internet. Und auch Veganer können sich dank sozialer Netzwerke inzwischen über alles informieren, was sie wissen möchten – oder nach Meinung anderer unbedingt wissen müssen. Davon kann man profitieren. Doch es kann auch verunsichern und demotivieren. Da erfährt man dann zum Beispiel, dass, obwohl man nun zwar, weil einem die Tiere leid taten und es sich sowieso ungesund anfühlte, seit geraumer Zeit keine tierischen Produkte mehr konsumiert und inzwischen auch keine Leder- und Wollsachen mehr kauft, man sich aber dennoch natürlich nicht (zumindest nicht die ganze Zeit) vegan nennen darf, wenn a) die Motivation mal gesundheitlicher Natur war oder b) wenn man eben doch noch irgendwie bewusst eigentlich vermeidbares Tierleid in Kauf nimmt – oder c) wenn man von Schlagsahne geträumt hat.

Wenden wir die Definition „vegan“ so an, dass sie erst dem Idealbild entsprechen muss, bevor wir sie benutzen dürfen, so ordnen wir uns einem Begriff unter – die vegane Bewegung kann dann jedoch einpacken, weil sie möglicherweise aus keinem einzigen „echten“ Veganer besteht. Veganismus nicht als Prozess zu sehen, zu dem sich jeder persönlich und in seinem Tempo aufmacht oder sogar seine Angst darüber zu verkünden, jemand könne sich einfach vegan nennen, obwohl es zu seinem Alltag gehört, regelmäßig Käse zu essen (ich kenne keinen, der sich dann vegan nennen würde, wozu auch – aber selbst wenn….?), hält viele Perfektionisten davon ab, es einfach mal auszuprobieren – weil sie sich nicht vorstellen können, diesem Ideal jemals entsprechen zu können. Und auf der anderen Seite gibt es inzwischen sicher so manchen Veganer, von dem wir leider gar nichts wissen, weil er es lieber keinem gesagt hat, solange sich aus welchen Gründen auch immer doch mal ein Honigbrötchen auf seinen Frühstücksteller verirrt. Oder er bei der Hochzeitsfeier einer Bekannten das Gemüse isst, obwohl er weiß, dass es in Butter geschwenkt war.

Nun kann man sagen: ist ja nicht so schlimm, es gibt nunmal diese Definition und wer bewusst etwas nicht Veganes tut oder isst, muss sich ja nicht grämen – aber er darf sich eben auch nicht so nennen, wo kommen wir denn da hin..

Nunja: weiter gekommen ist die vegane Idee in den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich nur deshalb, weil viele es nicht so ganz genau genommen haben mit der Definition. Ansonsten könnten wir nämlich wohl nicht von einem Prozent Veganern in der Bevölkerung ausgehen – mit steigender Tendenz :).  Wer also findet, dass dieser Begriff nur dem 100% perfekten Veganer zusteht, der dürfte sich dann auch nicht mitfreuen, wenn die Veganer statistisch immer mehr werden, denn wer überprüft denn, ob alle, die wir nun Veganer nennen, oder die sich selbst Veganer nennen, auch echte Veganer sind?

Ich plädiere dann doch dafür, seinen eigenen Weg zu gehen und den Begriff vegan zu benutzen, um kurz und bündig mitzuteilen, was man essen und anziehen möchte – der Satz „Ich bin vegan“ beschreibt also einfach, was man isst und nicht, wer oder was man ist. Aber er beschreibt auch eine Richtung, die ich meinem Leben gebe, eine Erinnerung an meine Ziele: zum Beispiel immer mehr Bewusstsein dafür zu entwickeln, was dieser Weg für die eigenen täglichen Entscheidungen bedeutet.

Man wächst in die Schwangerschaft hinein, weil man weiß, dass man schwanger ist. Man wird ein guter Psychologe, während man schon Psychologe ist. Jeder sogenannte Christ wird sich immer mal wieder nicht christlich verhalten und vielleicht glaubt ja jemand, der sich Atheist nennt, manchmal doch an irgend etwas. Und wenn ein Yogi sich – aus Versehen oder nicht – auch mal über den Begriff Ahimsa hinwegsetzt (oder ihn anders interpretiert als ein anderer Yogi), darf er sich dann deshalb nicht mehr Yogi nennen? Unbewusstheiten und sogenannte Fehltritte können durchaus Themen philosophischer Diskussionen über Wort-Definitionen sein. So kann man ergründen, was genau vegan eigentlich bedeutet, oder was einen guten Psychologen ausmacht. Begriffe sind dazu da, etwas zu beschreiben, zu umschreiben und zu informieren.

Der Mensch macht den Begriff – der Begriff sollte nicht den Menschen versklaven. Sich Wörtern unterzuordnen anstatt sie als Mittel zum Zweck zu benutzen, geht am Leben vorbei. Wir beschreiben uns immer mit Begriffen, die uns nie hundertprozentig gerecht werden können (aber schon gar nicht müssen wir den Begriffen gerecht werden!) – dennoch beschreiben sie einen Teil von uns, eine Motivation, etwas, was wir perfektionieren möchten in unserem Leben. Doch niemals können wir mit Wörtern tatsächlich erfassen, wer wir sind – es sind immer nur Versuche, das Unbeschreibliche zu umschreiben, das jedes einzelne Lebewesen tatsächlich ausmacht.

Und letztendlich hat jeder selber zu entscheiden, welche Schubladen er wählt, um dem Rest der Welt zu übersetzen, was ihn so umtreibt. Einer Person nun abzusprechen, sich für andere begrifflich erkennbar zu machen, indem sie sich vegan nennt, ist in keiner Hinsicht zielführend.

Naja, und Schwangerschaft mit Veganismus zu vergleichen, ist halt doch nicht so eine eindeutige Angelegenheit ;)

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2 Gedanken zu “vegan, veganer, am vegansten?

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