Neulich blätterte ich in der Apotheke in einer dort ausliegenden Broschüre herum, während der Verkäufer nachschaute, ob er Schüsslersalze auch als vegane Globuli auf Lager hat. Und da war sie dann wieder, in der Mitte des Heftes: die besorgte Warnung vor dem unausweichlichen Nährstoffmangel an alle Veganer. Nun ist es nicht erstaunlich, dass in einem Apothekenblättchen vor Nährstoffmangel gewarnt wird, denn was gibt es Schöneres für die Pharmaindustrie als eine neue Zielgruppe für Vitamintabletten: die Veganer. Doch nicht nur in Werbeblättern von Branchen, die vom potentiellen Vitaminmangel der Bevölkerung profitieren, sondern auch in sogenannten unabhängigen Ernährungsberatungen wird immer wieder suggeriert, dass Veganer öfter unter einem Nährstoffmangel leiden als der Rest der Bevölkerung. Das ist Unsinn.
Es verdichten sich im Gegenteil die Hinweise darauf, dass Veganer im Vergleich zum Rest der Bevölkerung gesünder sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Ernährung ohne Fleisch, Milch und Eier automatisch gesund ist. Wer vorher von Fast-Food lebte, kann das inzwischen auch als Veganer weiterhin tun, jedoch findet erfreulicherweise bei vielen Umsteigern auch eine Veränderung ihrer eigenen Esskultur statt: auf einmal werden aus Kochmuffeln Spitzenköche und aus Fast-Food-Junkies Ernährungsexperten. Wer sich jedoch überwiegend von tierischen Produkten ernährt hat – und diese nun einfach weglässt, wird seinen bisherigen Nährstoffmangel mit Sicherheit dadurch nicht los.
Wer sich aber bisher von tierischen und pflanzlichen Produkten ernährt hat und nun alle tierischen Produkte gegen noch mehr pflanzliche Nahrungsmittel eintauscht, wird seine Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen automatisch verbessern. Mit „mehr pflanzlichen Lebensmitteln“ ist jedoch nicht nur gemeint, die Menge einfach zu erhöhen (wobei auch das in den meisten Fällen positive Auswirkungen haben wird), sondern auch das Angebot zu vergrößern. Wer jedes weggelassene Milch- und Fleischprodukt seiner Ernährung durch ein „neues“ unverarbeitetes pflanzliches Produkt ersetzt, wird zum einen seinen Horizont erweitern, was die Fülle der Obst-, Gemüse und Getreidesorten sowie deren schmackhafte Verwendung in der Küche angeht, und zum anderen seinen Körper dadurch erfreuen, dass er mehr Nährstoffe in einem besseren Verhältnis zueinander als vorher aufnehmen kann.
Wer also vor dem Umstieg auf die vegane Ernährung keinen Nährstoffmangel hatte, wird diesen nun nicht aufgrund der Ernährungsumstellung bekommen. Dass Pflanzen gute Vitaminlieferanten sind, weiß inzwischen (fast) jedes Kind, doch auch Proteine, Kalzium und Eisen sind in Obst und Gemüse, Vollkorngetreide, Nüssen und Saaten genügend vorhanden und für den Körper in pflanzlicher Form sogar auf gesündere Weise verwertbar als aus Fleisch und Milch. Der Mensch ist, wie man unter anderem an der Länge des Darms erkennen kann, ein Pflanzenfresser (der ohne Frage im Notfall auch mit Fleisch überleben kann) – und Milch von Säugetieren ist natürlicherweise nur für die Ernährung ihrer Jungen vorgesehen.
Auch der Mensch zieht ja mit Muttermilch seine Säuglinge auf, es gibt jedoch außer dem Menschen kein Säugetier, welches die Muttermilch einer anderen Spezies trinkt, schon gar nicht im Erwachsenenalter. Inzwischen haben sich selbst Menschen mit einer ansonsten guten Allgemeinbildung schon so weit von der Logik der Natur entfernt, dass ihnen der Zusammenhang gar nicht mehr bewusst ist zwischen der Kuh, die gemolken wird, und den Kälbern, die sie zu diesem Zweck gebären musste und die ihr sofort nach der Geburt weggenommen werden, damit diese uns erwachsenen Menschen nicht die Milch wegtrinken.
Auf der anderen Seite werden immer mehr Menschen – und auch viele Vegetarier – zu Veganern, weil ihnen das erste Mal (auch dank Internet und sozialer Netzwerke) bewusst wird, dass die Milchindustrie noch mehr Tierleid verursacht als die Fleischindustrie. Denn wenn Milchkühe, ausgelaugt von ihren Aufgaben als Milchmaschine, keine Milch mehr geben, werden sie geschlachtet – ebenso wie ihre Kinder, die nur auf die Welt kamen, damit die Kühe Milch geben.
Muttermilch, egal ob von Mensch, Kuh oder Pferd, ist so zusammengesetzt, dass aus Babys möglichst schnell kräftige Menschen werden, aus Kälbern kräftige Kühe oder aus Fohlen gesunde Pferde. Deshalb enthält sie die ganze Palette an essentiellen Aminosäuren, die sich ein erwachsener Körper aus Pflanzen später je nach individuellem Bedarf selber zusammenbauen kann. Und sie enthält Stoffe, die ein Baby beruhigen. Diese beiden Eigenschaften möchte nun der erwachsene Mensch für sich nutzen: Proteine, die alles schnell wachsen lassen. Und die beruhigenden Casomorphine, die bei der Verdauung von Milchprodukten entstehen.
Was vielen nicht bewusst ist: schnelles Wachstum ist nicht automatisch die für den Körper gesündeste Art der Entwicklung – und durch tierisches Protein wachsen nicht nur Muskeln, sondern auch allerlei anderes. Wie T. Colin Campbell in seinem 2004 erschienenen Buch „China Study“ darlegt, kann z. B. durch die gezielte Vermehrung oder Verminderung von tierischen Proteingaben das Wachstum von Krebszellen quasi ein- und ausgeschaltet werden, und zwar unabhängig von der ursprünglichen Ursache der Tumorentstehung. Gegen solche gesundheitlichen Auswirkungen verblasst natürlich die Sucht des Menschen nach den Casomorphinen aus der Milch, diese erklärt jedoch, warum selbst viele Vegetarier es sich nicht vorstellen können, ohne Käse zu existieren.
Ähnliche Zusammenhänge ließen sich nun auch zur Kalziumaufnahme und zum Eisenvorkommen zusammentragen, ob vegan oder nicht: oft liegt die Ursache von Mangelerscheinungen eben nicht nur im Vorkommen in der Nahrung und in der Zufuhr der Stoffe, sondern u. a. in der Aufnahme und der Verwertbarkeit im Körper (sonst müssten ja Mangelprobleme dank Kalziumbrausetabletten und Co. längst gelöst sein – tatsächlich steigt jedoch z. B. die Anzahl der Osteoporosefälle prozentual zum Milchkonsum im jeweiligen Land). Ein Eisenmangel kommt meines Wissens bei Veganern, die sich vollwertig ernähren, nicht häufiger vor als beim Rest der Bevölkerung – jedoch wird als Ursache beim Veganer oft vorschnell der fehlende Fleischkonsum „diagnostiziert“.
Beim Vitamin B12-Mangel, welches übrigens der in meinen Augen einzige kritisch zu betrachtende Nährstoff trotz einer vollwertigen (!) veganen Ernährung ist, liegt in vielen Fällen eine Resorptionsstörung im Darm vor. Wer sich für eine Supplementierung mit B12 entscheidet, sollte daher die Aufnahme über die Mundschleimhaut gewährleisten und es mit Lutschtabletten probieren. Aufgrund der oft gestörten Aufnahme haben auch Allesesser häufiger B12-Mangel als man denkt, sie werden jedoch normalerweise nicht entsprechend getestet, während die meisten Veganer diese Untersuchung aktiv beauftragen.
Dass B12 nur in tierischen Lebensmittel vorkommt, stimmt so nicht, jedoch ist es im Rahmen einer zwar pflanzlichen, aber nicht mehr ursprünglichen Ernährung kaum noch möglich, den Bedarf zu decken, da diese aus (ungewaschener) Rohkost mit Erdbestandteilen und Wildkräutern bestehen würde. Dennoch gibt es auch heute Menschen, die sich rein pflanzlich ernähren, nicht supplementieren und dennoch keinen B12-Mangel haben, meiner Kenntnis nach überwiegend Rohköstler.
Grundsätzlich behaupte ich anhand meiner eigenen Erfahrung (ich lebe seit fast 30 Jahren vegetarisch und seit 5 Jahren vegan), meiner Beobachtungen und des Austausches mit anderen Menschen (Fachleuten und Laien) sowie diverser Studien, dass wir kein tierisches Eiweiß benötigen, um zu überleben – und dass die pflanzliche Ernährung die gesündeste Lebensform für uns Menschen darstellt.
Das größere Risiko eines B12-Mangels bei Veganern halte ich nicht für ein schlagkräftiges Argument zur Erklärung eines angeblich von der Natur eingerichteten Bedarfs an Fleisch- und Milchprodukten. Zumal die heutige Massenherstellung von Fleisch- und Milchprodukten im völligen Widerspruch zu einem wie auch immer gearteten Verständnis von Natürlichkeit steht.
Auch sprechen sich inzwischen zahlreiche Studien ganz eindeutig für den gesundheitlichen Nutzen einer pflanzlichen Ernährung aus (in Deutschland hinken hier die „offiziellen“ Ernährungsempfehlungen leider anderen Ländern wie Österreich, den USA und Kanada um einiges hinterher – was natürlich eine direkte Auswirkung hat auf die Ausbildung von Menschen sowohl im Medizinstudium als auch im konventionellen Ernährungsbereich).
Aber zurück zu den im Apothekenblättchen empfohlenen Nahrungsergänzungen: ja, manchen Menschen kann es tatsächlich helfen, Nahrungsergänzungen zu nehmen. Und zwar dann, wenn sie aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage sind, sich vollwertig und abwechslungsreich genug zu ernähren. Nahrungsergänzungen sind in bestimmten Situationen „das kleinere Übel“. Am gesündesten für den Körper wird jedoch immer die Pflanze in ihrer Ganzheit sein.
Grundsätzlich hat die sinnvolle Entscheidung für oder gegen Nahrungsergänzungsmittel jedoch nichts damit zu tun, ob jemand vegan isst oder nicht. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass ein erwachsener Mensch die Muttermilch eines Tieres benötigt und keine einzige mir bekannte Studie, die aussagt, dass der durchschnittliche Allesesser weniger Mangelerscheinungen aufweist als ein Veganer. Im Gegenteil…..
Zum Fit+Food-Coaching geht es hier.
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Quellen und Literaturempfehlungen:
China Study von T.Colin und Thomas M. Campbell
Ernährung für ein neues Jahrtausend von John Robbins
Tiere essen von Jonathan Safran Foer
Peace Food von Rüdiger Dahlke